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Sagen & Geschichten aus München

Münchner Sagen & Geschichten

Der Marienplatz

Der Marienplatz

Raff - So lang der alte Peter... (Seite 49)


Sie zu beschreiben tut nicht not. Den Einheimischen ist sie das vertrauteste Bild; unter den Fremden ist wohl keiner, der sie nicht gesehen und im Gedächtnis behalten hat. Wie ehemals die äußerlich überragende Zierde des Platzes, ist sie jetzt noch seine innerliche Bekrönung, Wahrzeichen und Schutzmal der Münchner Stadt. Wenn ein blauer sonniger Himmel über dem Platze lacht, so scheint die schlanke Säule mit dem himmlischen Frauenbild hineinzutauchen in den Ätherglanz; wenn die Dächer der nahen Häuser weiß sind vom glitzernden Schnee oder vom Mondenlicht, so webt ein silberner Flimmer um das Haupt der bronzenen Madonnenfigur. Zu allen Festen wird der Sockel der Säule mit Blumen geschmückt; am Vorabend der Feiertage werden die Laternen an den vier Ecken der roten Marmorbalustrade angezündet und glimmen mild durch die Nacht. Die Mariensäule ist nie allein, auch wenn der Verkehr auf dem Platze verebbt. Bilder vergangenen Geschehens umgeben sie 

Das war am achten November des Jahres 1638. Da wurde die Säule aufgerichtet „zur schuldigen Dankbarkeit und ewigen Gedächtnis der Erhaltung der Hauptstädte München und Landshut" im Schwedenkrieg. Durch den Bischof von München-Freising ward sie feierlich geweiht und darauf das, Hubert Gerhard zugeschriebene, Marienbildnis, das in der Frauenkirche zuvor bewahrt worden, gestellt. Inmitten einer Menschenmenge von Würdenträgern, Geistlichen, Ratsherren, Bürgern kniete der Kurfürst Max I. nieder und sprach laut folgende Worte: „Gott dem Allerhöchsten und Allgütigsten, der Jungfrau und Gottesgebärerin, der mildreichsten Frau und mächtigsten Beschützerin Bayerns, setzt dieses immerwährende Denkmal für die Nachkommen, wegen der Erhaltung des Bayerlandes, der Städte, Heere, seinerselbst, seines Hauses, seiner Hoffnungen, dankbar und bittend ihr mindester Pflegesohn Maximilian." Sodann weihte er sich und alles Seinige der hl. Jungfrau mit den Worten: „Erhalte, o heilige Jungfrau, als Patronin deinen Bayern ihre Habe, ihre Verfassung, ihr Land und ihre Religion." Darnach, tief ergriffen, erhob sich der Kurfürst, und begab sich im feierlichen Zuge zum Hochamt in die Frauenkirche. 

Aber noch war die Drangsal des Krieges nicht vorbei, noch minder seine furchtbaren Folgen. Haufen verhärmten hohläugigen Volkes umdrängten oft genug die Mariensäule, flüchteten mit ihrem Elend zu der „liebreichen Hertzogin in Bayern, der mildreichsten Patrons Bavariae". Flehende und unwirsche Blicke streiften zuweilen die kämpfenden Engelsgestalten am Sockel: „Wann werdet ihr fertig sein mit dem Hunger? Wann habt ihr sie überwunden, die Pest?" Wenn sie immer wieder aufflackert, die Pest, wenn immer wieder der Totenkarren durch die Straßen poltert, wie dann die verkrampften Hände und verzweifelten Gesichter sich hinaufrecken zum Marienbildnis: „Hilf uns, Himmelsmutter! Maria bitt' für uns!" 

Die Zeit verrinnt. Wieder kniet ein Kurfürst zu Füßen der Säule: Max II. Emanuel. Nicht so ernst, wie sein Ahn: jung, ehrgeizig, ein geborener Kriegsfürst. Um Sieg kommt er zu bitten, da er gegen den Türken zu Felde zieht, den Erbfeind der Christenheit. Der Sieg, von dem er träumt, um den er fleht, wird Wahrheit werden, aber wahr wird dereinst auch ein Anderes, von dem sich Max Emanuel jetzt nichts träumen läßt. In mehr als zwanzig Jahren, während Kriegselend seine Hauptstadt umbrandet und er selbst als Vertriebener in der Ferne weilt, werden jammernde Frauen und sorgenvolle Männer zum Bilde der Gottesmutter wallen, seine eigene Gattin voran, von seinen kleinen Söhnen begleitet. Kinderhände, darunter die seiner Kinder, werden sich falten, um durch ihr unschuldiges Gebet die Himmelskönigin zu bewegen, daß sie das Unheil abwende und den Fürsten zurückführe. Aber lange, lange wird es währen, bis das Erbetete eintrifft. Und zuvor wird noch ein Blutgerüst zu Füßen der gnadenreichen heiligen Jungfrau stehen, und die Männer, die ihr Blut hingeben müssen, um der Treue an ihrem Herrscher willen, werden mit dem letzten Lebenshauche sich der Fürbitte der Schutzherrin Bayerns empfehlen, ehe der Henker ausholt. 

Ein Menschenalter schwindet. Ein müder Mann, im Reisegewand noch, naht schwankenden Schrittes der Säule, beugt sein Knie vor ihr: Karl Albrecht, Max Emanuels Sohn, der als kleiner Prinz hier für den Vater gebetet, und den das Schicksal als Mann wie jenen grausam umgetrieben hat. Die Kaiserkrone des heiligen römischen Reiches deutscher Nation schmückte ihn, und mit Hiob, dem Mann der Schmerzen, verglich er sich. Während nun die Stände seines Erblandes ihn willkommen heißen, Klerus und Volk ein feierliches Te Deum zur Begrüßung des Heimgekehrten anstimmen, sucht sein umfloriter Blick die barmherzigen Augen des Bildes und bittet um eine friedliche Schlummerstatt in heimischer Erde. 

Wieder drängt und wogt es auf dem Platz; festliches Geläute der Glocken durchzittert die Luft. Vor dem Landschaftshause ist eine Art Altan errichtet, verkleidet mit purpurfarbenem Tuch. Ein ehrwürdiger Mann im weißen seidenen Priestergewand steht oben: segnend hebt er die Rechte, daran der Fischerring des hl. Petrus blitzt, über der tausendköpfigen Menge, die sich vor ihm zur Erde neigt. Hoch und Nieder, Alt und Jung, wer nur irgend konnte, hat nicht daheim bleiben wollen, ist herbeigeeilt, um den sechsten Pius zu sehen, den Nachfolger Petri, der die Münchner Stadt besucht, und um seinen Segen zu empfangen. 

Das festliche Bild des segnenden Papstes und des andächtigen Volkes erbleicht. In trübem, nebligem Wetter, während der Wind um die Ecken pfeift und bisweilen schon Flocken dahertreibt, kauert auf den Stufen am Unterbau der Säule ein armes Weib. Sie scheint die Kälte nicht zu spüren, die mitleidigen Blicke der Vorübergehenden so wenig zu beachten, wie die Gabe, die ihr hier und da Einer in den Schoß wirft. Das ist die „Beterin an der Marienfäule"; alle Welt kennt sie. Früher war sie eine glückliche Frau und Mutter. Der Kaiser der Franzosen, der den Papst Pius gefangen setzen ließ, nahm die bayerischen Soldaten mit in den Krieg nach Rußland; da mußte — so geht die Märe — der Mann der Beterin mit als Offizier. Die Frau, ihr Kind neben sich, sah die Truppen auf dem Platz vorbeiziehen, folgte ihnen noch ein Stück Weges, sehnsüchtig nach dem letzten Anblick ihres Liebsten. Ihr Bübchen hatte sie an der Mariensäule zurückgelassen, ihm eingeschärft, zu warten: sie käme gleich wieder. Aber sie kam nicht: im Gedränge des nachströmenden Volkes ward sie zu Boden gerissen; das Rad eines schweren Geschützes ging über sie hinweg. Bewußtlos und stark verletzt wurde sie aufgehoben; als sie nach Wochen aus der wundärztlichen Behandlung entlassen war, fand sie ihr Kind nirgend mehr, nicht daheim noch an der Mariensäule. Sie sah ihren Knaben nicht wieder, so wenig wie ihren Mann, der aus Rußland nicht zurückkehrte. Darüber verfiel die Ärmste in stillen Wahn; Gebete murmelnd, starr um sich blickend, hockte sie Tag für Tag an der Mariensäule. So traurig war die Geschichte der stillen Beterin. 

In stetem Wechsel ziehen leidvolle und freudige Bilder zu Füßen der Säule vorbei, zu viele, als daß sie in engen Rahmen sich fassen ließen. Aber noch eins tritt mächtig hervor: eine schier endlose Prozession, über zehntausend Menschen, viele mit Kerzen in der Hand, unterm goldflimmernden Baldachin der Erzbischof mit dem Allerheiligsten. Dankgesänge, Dankgebete steigen zum Bilde der Himmelsmutter empor für das Erlöschen der Cholera, die in München durch Monate gewütet hat. Fünf Wochen vorher zog eine fast ebenso große Bittprozession hierher zur Mariensäule, um das Ende der Seuche zu erflehen. So bitter die Angst und das Leiden von damals, so heiß und inbrünstig ist nun der Dank.

Zehn Tage nach dieser zweiten Prozession, am 13. Oktober 1854, gab der Magistrat bekannt, daß der König „den aus Veranlassung und zum ewigen Andenken der am 28. August und 3. Oktober an der Mariensäule stattgehabten kirchlichen Feierlichkeiten von der Bürgerschaft angeregten Wunsch der Umänderung des Namens „Schrannen-" in „Marienplatz" genehmigt habe." So galt die bisher nur für die nördliche Seite des Platzes übliche Bezeichnung „Platz Mariä" nunmehr dem ganzen Platz.

* *

Das Leben geht weiter zu Füßen der Mariensäule, bunt und wild, kraus und verworren. Aber die vier bewehrten Engelchen an den Ecken des Unterbaues schwingen unverdrossen Schwert und Schild, als wollten sie die Menschen mahnen, ebenso tapfer zu kämpfen. Und hoch von der Säule herab lächelt stets der gleiche verheißende Mutterblick, und das Kind breitet über Freud und Leid, Gerechte und Ungerechte segnend seine Händchen aus.

Literatur


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Der Marienplatz
Der Marienplatz
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 Max II. EmanuelKurfürst Max I

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